Leseprobe
Hintergründe

 

Goweli - Die unbefleckte Empfängnis

Prolog


August 1990, Washington D.C.


„Heilige Jungfrau Maria. Bitte für uns Sünder. Jetzt und in der Stunde unseres Todes.“ Lucia presste die Worte durch ihre Lippen, senkte den Blick vor Ehrfurcht, Angst, Reue.
„Vergib mir, Mutter Gottes.“ Tränen rannen über ihre Wange. „Bitte ... vergib mir.“
Der Steinboden drückte unbarmherzig gegen ihre Knie, die Kerzen vor der Marienstatue flackerten wild, zauberten tanzende Schatten auf das Gesicht der Heiligen Jungfrau, ließen sie lebendig wirken, gütig lächeln, ein wenig besorgt, als wüsste sie von Lucias Vorhaben.
Ihre Hände zitterten, zum Gebet aneinander gedrückt, zur Mutter Gottes gerichtet, bettelten um Hoffnung, einen Ausweg, einen besseren als den, den ihre Finger umklammerten.
Das Portal fiel mit einem Donner ins Schloss. Schritte kamen näher. Seine Schritte. Langsam. Bedrohlich. Er schien zu wissen, dass sie nicht fliehen würde, nicht fliehen konnte, keine Kraft mehr hatte, dass es jetzt zu Ende war. Die Schritte verstummten knapp hinter ihr.
„Lucia. Wo ist unser Kind?“
Seine Stimme hallte durch das Kirchenschiff, obwohl er leise gesprochen hatte. Und noch immer übte sie diese Faszination auf Lucia aus, die sie vor einem Jahr gefangen genommen hatte, die sie dazu getrieben hatte, diesen Mann zu lieben, ihm zu vertrauen, ihm ihre Jungfräulichkeit zu schenken. Lucia schüttelte den Kopf, wollte die Erinnerungen weit fortschleudern. Wieder blickte sie in das makellose Gesicht der Marienstatue.
„Du wirst sie niemals finden, Charles. Hörst du? Niemals.“
„Lucia. Ich muss sie finden.“
„Damit du sie töten kannst? Niemals.“
Keine Macht der Welt würde sie dazu bringen, den Aufenthaltsort von Neenah zu verraten, ihrem Baby, ihrem kleinen Mädchen. Neenah hatte sie angeblickt, als Lucia sie auf das Steinplateau vor dem Nonnenkloster gelegt hatte, als Lucia gegen die Klingel drückte, sie auf die Stirn küsste, ihr ins Ohr flüsterte, wie sehr sie ihr Baby liebte. „Schrei, meine Kleine!“, hatte sie dann gebrüllt. „Schrei um dein Leben!“ Und Neenah schrie. Lucia war gerannt, hatte nur mehr gehört, wie das Portal des Klosters geöffnet wurde, wie Neenahs Weinen in der Ferne verstummte.
Sie würde ihr Baby niemals ausliefern, und es gab nur einen einzigen Weg, um dies sicherzustellen.
„Lucia. Ich muss das Mädchen finden. Es ist wichtig.“ Seine Hand auf ihrem Kopf fühlte sich warm an, wurde wärmer, heiß, ließ sie die Augen schließen. Seine Energie drang in ihr Gehirn ein, begann in ihren Erinnerungen zu wühlen, tiefer und tiefer. Sie musste handeln. Schnell.
„Heilige Jungfrau Maria.“ Ihr Körper zitterte, ihre Finger verkrampften sich. „Bitte für uns Sünder.“ Sie schloss die Augen, spürte die Spitze des Messers gegen ihre Brust drücken. „Jetzt und in der Stunde ...“
„Lucia! Um Gottes Willen! Was tust du?“
„... unseres Todes.“ Wild entschlossen rammte sie sich die Klinge in ihren Brustkorb, blickte ein letztes Mal zur Heiligen Jungfrau, fühlte ihre Barmherzigkeit, ihre Güte, ihre Vergebung. Sie hörte Charles’ entsetzten Schrei schon aus weiter Ferne, als die Dunkelheit sie für immer einhüllte.


* * * * *


1


Juli 2010, Washington DC, Kloster der Heiligen Jungfrau Maria


Dunkelheit drückte auf Neenahs Lider wie ein tonnenschweres Gewicht. Einmal mehr wälzte sie sich vom Rücken auf die Seite, versuchte den dunklen Fleck an der Wand zu entdecken. Das Mondlicht fiel durch das Fenster, mehr eine Nische, und half ihr, das schmutzige Stück Mauerputz zu finden und zu fixieren. Heute erinnerte der Fleck an ein Gesicht, ein Frauengesicht, lächelnd, mit wilden Locken. Gestern Nacht war es eine Katze gewesen, und je länger sie darauf gestarrt hatte, umso mehr war sie davon überzeugt gewesen ein lebendiges Tier zu beobachten, das übermütig herumhüpfte und die Schatten jagte, die der Mond an die Wand warf. Schlaf schon ein, bettelte das Gehirn und das Frauengesicht an der Wand schien zustimmend zu nicken. Langsam schlossen sich ihre Lider, ein angenehmes Kribbeln breitete sich auf ihrem Körper aus. Der Schlaf legte ihr seine Hand auf und streichelte sie langsam aus dem Wachsein.
Nein!
Neenah drehte sich auf den Rücken, starrte an die Zimmerdecke, spürte die schnellen Schläge ihres Herzens. Beinahe hätte er sie entführt, hätte sie hinein gezerrt in das dunkle Loch, wo dieser Traum schon auf sie wartete. Nein, heute würde sie auf gar keinen Fall nachgeben.
Sie hatte es genau gehört, das Knirschen der Türklinke, das Flüstern der Scharniere, das ihr den nächtlichen Besuch ankündigte. Sie schloss die Augen, hörte nackte Fußsohlen auf dem alten Dielenboden.
„Nee? Schläfst du?“
Christine. Sie waren am selben Tag in das Kloster eingetreten, hatten sich schon auf der Busfahrt hierher kennengelernt. ‚Darf ich mich neben Sie setzen?’, hatte Christine gefragt und sich zögernd auf dem angebotenen Platz niedergelassen. Die blauen Augen blickten traurig aus dem Fenster, als Neenah nach den Beweggründen fragte, die sie in das Nonnenkloster führten. ‚Dem Herrn zu dienen’, antwortete sie und strich eine blonde Korkenzieherlocke aus ihrem blassen Gesicht. Jemand hatte ihr wehgetan, sie zutiefst verletzt. Neenah musste keine hellseherischen Fähigkeiten haben, um dies zu erkennen. Sie nickte nur und begann über ihre eigenen Beweggründe nachzudenken.
In einem katholischen Waisenhaus aufgewachsen, war sie schon seit ihrem ersten bewussten Denken in der Welt des Gebets, der Keuschheit, des religiösen Rituals beheimatet. Die Schule hatte sie mit gutem Erfolg in der ‚Katholischen Highschool für Mädchen in Washington D.C. absolviert und war nun auf dem Weg zu jenem Kloster, dem sie ihr Leben verdankte. Gott hatte dort vor zwanzig Jahren ihr Leben gerettet und dort wollte sie es auch beenden. Ein hoffentlich langes Leben, das sie in Ehrfurcht, Demut und Dankbarkeit dem einzigen Gott und seinem Sohn Jesus Christus widmen würde.
‚Sie haben wunderbares Haar, schwärmte Christine und fasste nach einer von Neenahs leuchtend roten Strähnen. Wunderbares Haar? Im Mittelalter wäre sie dafür verbrannt worden, als Hexe, als Dienerin des Teufels. Aber sie hatte dankend gelächelt. Christines Augen blitzten, als hätte sie endlich etwas auf dieser Welt gefunden, das ihr Freude bereitete. Auch wenn es nur eine Strähne von Neenahs Haar war.
„Nee. Wach auf.“
Christine war oft in Neenahs Zelle gekommen, nachts, wenn die Dunkelheit ihr Angst machte. Dann legte sie sich neben Neenah, die sie in den Schlaf streichelte. Bis zu jener Nacht, als Christine plötzlich nach Neenahs Hand fasste und diese zärtlich zu küssen begann. Ein angenehmer Schauer jagte über Neenahs Körper, nistete sich tief in ihrer Scham ein, wie ein gieriger Dämon, der seine Chance witterte Neenah vom rechten Weg abzubringen. Aber sie war stärker, löste ihre Finger sanft von Christines Lippen. Das ist nicht richtig, sagte sie. Ein trauriges Ja war Christines Antwort.
Dennoch konnte Neenah diesen Augenblick, dieses Gefühl, nicht vergessen. Es war wie ein Blinzeln in ein Universum der Wollust, das sie mit offenen Armen empfangen hätte. Und dieses Gefühl war wunderschön.
„Nee ...“
„Pscht.“
Neenah öffnete die Augen. Christine ging in die Hocke. Ein durchdringendes Knacken hallte im Zimmer, ausgehend von Christines Kniescheiben. Christine hatte ihr weißes Nachthemd angezogen, das sie vermutlich von ihrer Großmutter geerbt hatte. Rüschen zogen sich um den Ausschnitt und ließen die Haut und den Ansatz der Brüste durchscheinen. Brüste, die bei Christine fast nicht vorhanden waren. Neenah hatte Christine einmal dabei ertappt, wie sie auf ihre Brüste starrte. Sie waren zwar auch nicht viel mehr als eine Handvoll, aber genug, um bei Christine einen neidischen, nahezu lüsternen Blick auszulösen.
„Komm, steh auf. Ich muss dir etwas zeigen.“ Christine griff nach Neenahs Hand.
„Es ist mitten in der Nacht. Geh wieder in dein Bett.“
„Nein. Komm schon. Es ist wichtig.“ Christine packte Neenahs Finger und zerrte daran, wie ein kleines Kind, das seiner Mutter eine sensationelle Entdeckung präsentieren musste.
Neenah drehte sich zur Seite und seufzte. Christine schob die Bettdecke zurück und zog Neenah in eine sitzende Position. Sie spürte Christines Blick auf ihrer Haut, wie er über ihren Bauch zu der Innenseite ihrer Schenkel wanderte.
„Schnell“, zischte Christine und wandte sich zur Tür. Langsam ließ sie Neenahs Hand los.
„Soll ich vielleicht nackt ...?“
„Von mir aus.“ Christines Zähne blitzten im Mondlicht.
„Das hättest du wohl gerne.“
Neenah griff nach ihrer Jogginghose, die sie neben dem Bett über den Holzstuhl geworfen hatte. Sie schlüpfte hinein und zog sich ein weißes T-Shirt über. Die Oberin sah es zwar nicht gern, wenn eine Novizin in diesem weltlichen Aufzug durch das Kloster geisterte, aber um diese Zeit sollte die alte Krähe in ihrer Zelle sein. Und sie hoffte sehr, dass Christine nicht vorhatte, die Schwester Oberin zu besuchen.
Christine war bereits in der Dunkelheit des Ganges verschwunden, als Neenah die Tür hinter sich schloss. „Warte“, flüsterte Neenah und drückte abermals die Türklinke. Ihr Kruzifix durfte sie nicht vergessen. Ein kleines goldenes Kreuz, das ihre Mutter ihr in die Jackentasche gesteckt hatte, zusammen mit einem Zettel. Neenah, stand darauf. Verzeih mir! und Gott schütze dich!
Ihre Mutter musste sehr gläubig gewesen sein, auch wenn das mit ihrem Handeln nicht zu vereinbaren war. Neenahs Gefühl sagte ihr, dass sie in höchster Verzweiflung gehandelt haben musste. Ihr Verstand sagte ihr, dass ihre Mutter sie nicht brauchen konnte. Und doch hoffte sie, dass der Verstand sich täuschte. Dass ihre Mutter eines Tages vor ihr stehen würde, sie fest an ihre Brust drücken und ihr erklären würde, warum sie das getan hat. Warum sie ihr Baby auf einem Steinplateau vor einem Nonnenkloster abgelegt hatte wie ein Paket, das man zurück an den Absender schickt.
Neenah angelte nach der goldenen Kette auf dem Nachttisch und legte sie sich um den Hals. Zwei Versuche, dann hatte sie den Verschluss eingehakt. Sie griff nach dem Kreuz und küsste es.
„Neenah!“, zischte es vom Gang in das Zimmer.
Sie schloss die Tür hinter sich und schlich quer über den Gang. Christines langes Nachthemd flatterte die Wand entlang. Sofort musste Neenah an ein Schlossgespenst denken. Kein gruseliges, furchterregendes, sondern ein lustiges, unbeholfenes. Vor der Treppe zum Ausgangsportal des Wohntraktes, machte Christine Halt, blickte zu Neenah, als wollte sie sichergehen, sie nicht verloren zu haben. Der Steinboden fühlte sich an wie Eis, selbst jetzt im Sommer und ließ frostige Kälte an Neenahs Beinen hoch kriechen. Drei Meter trennten sie noch von Christine.
„Alles klar?“, fragte Christine.
„Was hast du vor?“
Die Antwort kam in Form eines allwissenden Grinsens. Christine schlich die Steintreppe hinab, Neenah folgte ihr. Die Treppe drehte sich um hundertachtzig Grad und gab den Blick auf das Portal frei, über dem ein rundes Fenster angebracht war, durch das der Mond sein Licht in die Aula warf. Christines Nachthemd flatterte zur Tür.
„Die ist abgeschlossen“, sagte Neenah.
Das Portal wurde immer verschlossen nach dem Abendgebet. Von Schwester Anna-Maria, die den Schlüssel wie eine Reliquie hütete. Christine bückte sich und fasste unter den Teppich, der vor der Tür dem ärgsten Schmutz vom Vorplatz Einhalt gebot. Ihre Hand kehrte zurück, einen Schlüsselbund mit leisem Klimpern hin und her schwenkend.
„Woher ...?“
„Pscht!“ Christine legte einen Finger auf ihre Lippen. Dann steckte sie einen Schlüssel ins Schloss und drehte ihn. Ein Klacken schoss durch die Aula, in einer Lautstärke, die Neenah das Gefühl gab, die gesamte Schwesternschaft müsse in ihren Betten hochschrecken. Christine drückte die Klinke und zog das Portal auf. Ein Schwall kühler Nachtluft wehte in Neenahs Gesicht. Der Mond schien sie freundlich willkommen zu heißen. Vollmond. Er strahlte, als wüsste er um die Faszination, die er in dieser Nacht auf die Lebewesen dieses Planeten ausübte. Zwei Stufen führten auf einen Kiesweg an der Hausmauer. Wie ein weißer Schatten huschte Christine über den Weg und entfernte sich mit einem leiser werdenden Knirschen. Was hatte sie vor? Neenah sprang von den Stufen. Die Kieselsteine bohrten sich in ihre Fußsohlen, wie Glasscherben, die sie mit jedem Schritt daran erinnerten, dass sie sich um diese Zeit nicht außerhalb des Wohntraktes aufhalten durfte. Neben dem Weg erstreckte sich ein weitläufiger Rasen, in dessen Mitte ein steinernes Kreuz aufgestellt worden war. Davor kniete eine Frau, die Heilige Jungfrau Maria. Etwa zwanzig Meter hinter dem Kreuz blitzte weißer Marmor in die Nacht. Eine Engelsstatue, kniend, in Trauer gebeugt, gestützt von einem Steinpodest, das Gesicht auf einen Arm gelegt, die Flügel wie verwelkte Blätter gesenkt. Neenah malte ein Kreuzzeichen in Richtung der Skulptur und musste sich sputen, um ihre Freundin nicht aus den Augen zu verlieren. Christine hatte bereits die Klostermauer erreicht, an der eine Treppe zum Waldrand hinab führte. Wieder schaute sie nach Neenah, wie ein kleines Mädchen, das sich nicht zu weit von der Mutter entfernen wollte. Neenah sprintete die Steinstufen hinab, blieb kurz stehen, um sich einen besonders hartnäckigen Kieselstein von ihren Fußsohlen zu wischen.
„Wo bleibst du denn?“ Christine warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Ich hätte Schuhe anziehen sollen!“
„Ach was!“ Christine rannte weiter.
Neenah folgte ihr, musste sich bemühen, nicht über die Treppe aus grob gehauenem Stein nach unten zu stürzen.
Der angrenzende Wald wirkte bedrohlich schön. Durch die Äste schimmerte die Skyline von Washington D.C. Die Ausläufer der Stadt zogen sich den Hügel herauf, bis etwa einen Kilometer vor das Kloster. Der dichte Mischwald wirkte wie ein Schutzwall gegen die Häuser, gegen den Lärm der Großstadt, der unaufhörlich gegen diese natürliche Mauer brandete.
Neenah hatte das Ende der Treppe erreicht und sah Christine in den Wald huschen. Ein schmaler Pfad, auf den der Mond gerade ausreichend Licht warf, um nicht über das wilde Wurzelwerk zu stolpern. Ein Ast knackte unter Neenahs Fußsohlen, bohrte sich in die Haut. Sie hätte Schuhe anziehen sollen.
Neenah wusste, wo Christine hinrannte. Sie gingen diesen Weg jeden Tag um halb sechs Uhr morgens, am Mittag und am Abend. Er führte zur Kapelle des Klosters, erbaut an der höchsten Erhebung des Hügels. Neenah konnte die Umrisse bereits erkennen. Der Kirchturm, etwa zehn Meter hoch, zeichnete sich vage am Nachthimmel ab. Christine stand bereits am Eingangsportal und drückte die Klinke.
Ein warmer Schimmer fiel durch die halboffene Holztür und wies Neenah den Weg über die drei Steinstufen. Ein Meer aus Kerzenflammen empfing sie. Die Kerzen waren im Gang zwischen den Kirchenbänken aufgestellt und formten drei Worte:
Happy Birthday, Neenah!
„Alles Gute zum Geburtstag, Nee.“
„Oh mein Gott!“ Neenah hielt die Hand vor ihren offenen Mund, das Lichtermeer verschwamm vor ihren Augen. „Woher weißt du ...?“, stammelte sie.
„Frau hat eben so ihre Informationsquellen.“
„Du hast in den Akten der Schwester Oberin geschnüffelt!“
Christine schüttelte den Kopf. „War gar nicht nötig. Sie hat es mir auch so gesagt.“
Neenah wischte eine Träne von der Wange. „Danke!“ Sie streckte ihre Arme aus und zog Christine an sich. „Danke.“
„Schon gut“, sagte Christine lächelnd. „Das Beste kommt ja erst. Setz dich auf den Boden. Ich bin gleich wieder da.“ Christine zog das Nachthemd bis über die Knie hoch, hüpfte über das Wort Happy und huschte über die Stufen zum Altar. Sekunden später war sie in der Sakristei verschwunden.
Zehn Kirchenbänke zogen sich an beiden Seiten des Ganges nach vorn, wo etwas erhoben ein heller Eichentisch als Altar diente. Der Altar stand unter einer Kuppel, in der ein riesenhaftes Kreuz befestigt worden war. Jesus überblickte so die gesamte Kapelle. Von dort oben könnte er dem Pater elegant in den Kelch spucken, meinte Schwester Gabriela, eine dunkelhäutige Nonne, die ein wenig an Whoopi Goldberg in dem Film Sister Act erinnerte. Nicht nur dem Aussehen nach, wie diese unpassende, aber dennoch witzige Bemerkung bestätigte. Der Rest der Kapelle war in schlichtem Weiß gehalten, das an den Wänden von insgesamt zwölf Malereien unterbrochen wurde. Stilisierte Darstellungen des Kreuzweges. Das Kreuz war ein X, Jesus ein Kreis. Und so wanderten das X und der Kreis die Wände entlang, bis schließlich der Kreis das X umfasste. Diese Darstellung traf nicht ganz Neenahs Geschmack. Sie bevorzugte die bunten Malereien, die allein wegen der Sorgfalt des Malers dem Heiland huldigten. Diese moderne Darstellung erinnerte viel mehr an eine vereinfachte Variante des Spiels Tic Tac Toe.
„Mach die Augen zu!“ Christines Gesicht erschien in der Tür zur Sakristei. Neenah schloss die Augen. „Nicht schummeln!“, hallte es durch das Kirchenschiff. Kurz darauf hörte sie Christine auf dem Teppichboden des Gangs näherkommen, bis sie schließlich vor ihr stehen blieb. Das Knacken ihrer Kniescheiben verriet, dass Christine sich auf den Boden setzte. „Du darfst die Augen jetzt aufmachen.“
Ein breites Lächeln empfing Neenah, Christines Augen blitzten sie fröhlich an. Sie zeigte auf den Boden vor sich, auf den winzigen Kuchen, auf die gelbe Kerze, auf die Flamme, die zaghaft flackerte. Daneben lag ein kleines, in blaues Geschenkpapier eingewickeltes Päckchen, liebevoll drapiert mit einer roten Schleife.
„Happy Birthday!“ Christines Finger strichen sanft über Neenahs Wange.
„Ich ... ich ...“
„Du musst die Kerze ausblasen und dir dabei etwas wünschen.“
Neenah hob den Kuchen hoch. Ein Schokoladenkuchen, die Glasur glänzte im Kerzenlicht. Dem Aussehen nach ähnelte er einem Muffin.
Ein Wunsch. Es gab nur einen Wunsch: eine Familie. Ja, sie wünschte sich, zu einer Familie zu gehören. Einen Vater, eine Mutter zu haben, vielleicht auch eine Schwester oder einen Bruder. Ja, dieser Wunsch sollte mit dem Erlöschen der Flamme zu Gott emporsteigen. Sanft presste sie Luft durch ihre angespitzten Lippen. Mit einem leisen Zischen erstarb die Flamme.
Christine applaudierte und lachte, als wäre sie es, die in diesem Moment beschenkt worden war. „Das Geschenk“, drängte sie. „Du musst es aufmachen!“ Sie hakte die Finger ineinander und hielt sie vor ihren Mund.
Neenah griff nach dem Päckchen und löste die Schleife. Dann riss sie das Papier ab und blickte auf eine dunkelbraune Schatulle.
„Aufmachen!“
Christine konnte es offensichtlich nicht mehr erwarten. Ihr Oberkörper wippte in einer Woge aus Vorfreude. Neenah lächelte und klappte den Deckel nach oben.
„Mein Gott! Christine! Er ist wunderschön!“ Ein goldener Engel blitzte sie an, kniend und betend. Eine Schlaufe am Hinterkopf ließ darauf schließen, dass der Engel als Anhänger für Neenahs Kette gedacht war. Neenah schüttelte den Kopf.
„So wunderschön.“ Sie legte die Schatulle auf den Boden, fasste nach Christines Hand und zog sie sanft in ihre Richtung. „Danke!“ Dann umarmte sie Christine und küsste sie auf die Wange. „Tausend Dank!“
„Ich hoffe, du freust dich.“
„Und wie ich mich freue. Es ist lange her, dass ich mich so gefreut habe.“
„Dann freue ich mich auch.“ Christine fasste unter eine der Kirchenbänke und holte eine Serviette hervor, in die sie etwas eingewickelt hatte. Kurz darauf hielt sie ein Küchenmesser in der Hand, mit dem sie den Kuchen teilte. Sie reichte Neenah ein Stück und hob ihre Hälfte hoch. „Auf das Geburtstagskind.“ Sie zwinkerte und ließ ihr Stück im Mund verschwinden.
„Noch einmal: Tausend Dank.“ Der Kuchen war süß, ließ ihre Geschmacksnerven freudig aufschreien.
„Und?“, fragte Christine mit erhobenen Augenbrauen.
„Sehr gut!“ Neenah schluckte die letzten Reste und genoss den Geschmack von Schokolade und Kakao in ihrer Mundhöhle.
„Mhm“, antwortete Christine. Plötzlich weiteten sich ihre Augen, starrten entsetzt zum Eingang.
„Was ist?“, fragte Neenah und drehte sich um. „Großer Gott!“ Zitternd tastete sie nach der Schatulle, öffnete sie und schloss den Engel zwischen ihren gefalteten Händen ein. „Heilige Jungfrau Maria, bitte für uns Sünder. Jetzt und in der Stunde unseres Todes.“